DOMINIK: Du hast ja eine total aufregende Reise hinter dir, Andrea. Und seitdem ich weiß, dass du darüber ein Buch geschrieben hast, kann ich mir deine Erlebnisse nur noch in Szenen und Kapiteln vorstellen. Und ich möchte jetzt gern mit einer Szene beginnen, die ich ganz wunderbar finde. Als du in den Sudan kamst, da lud man dich ad hoc zu einem Fußballspiel ein, stimmt´s?

ANDREA ENSMANN: Stimmt. Ich war dort auf einer Insel mit Anna unterwegs. Und wir trafen gemeinsam einen jungen Fußballspieler, vielleicht achzehn Jahre alt, Mohammed hieß er, der uns total begeistert zu seiner Familie einlud, wo wir Brot aßen und uns unterhielten. Dieser Mohammed hat so gestrahlt und war so selbstsicher, was seine Fußballer-Qualitäten anging. Ich liebe sowas. Und dann hat er uns gefragt, ob wir nicht zu seinem Spiel kommen wollten. Mir war zuerst ein bisschen mulmig zumute. Meiner Kollegin war auch nicht gut dabei. Aber im Hotel trafen wir dann zwei Reisende aus Kanada und Deutschland und fragten sie, ob sie uns nicht begleiten wollten. Und dann gingen wir alle zusammen zu diesem Fußballmatch. Das war unglaublich dort.

Wie schön.

Die Kinder freuten sich so, dass wir da waren. Wir waren quasi die Attraktion.

Wie sieht ein Fußballspiel im Sudan aus? Gibt es sowas wie Ränge, auf denen man steht und zusieht?

Das Feld war aus Sand, was wahnsinnig anstrengend sein muss für die Spieler.

Auf weichem Sand oder hartgepresstem?

Es war schon ziemlich weich. Aber auch nicht wie am Strand. Etwas dazwischen. Und wir Zuseher standen auf betonierten Rängen und saßen sehr eng beisammen. Auch mit den Fans der gegnerischen Mannschaft. Alle schrien. Ich war nie sicher, wer wem zujubelte.

Wer gewann?

Die Mannschaft von Mohammed natürlich. Der strahlte richtig als er uns sah, weil er nicht wusste, ob wir kommen würden. Und es wurde getrommelt und gefeiert. Aber nur von Buben und Männern. Außerhalb gab es Frauen, die Nüsse und Eis verkauften. Das ist eben diese Kultur, wo Frauen diese Rechte nicht besitzen. Als Weiße hast du aber Sonderstellung.

Wieso ist das im Sudan eigentlich so, wo doch in Äthiopien das Gegenteil herrscht?

Ich glaube, den Sudanesen ist sehr wichtig, wie man über sie spricht. Sie kommen schließlich in den Medien nicht gerade gut weg. Der Sudan ist immer ein Synonym für Krieg und Demonstrationen und Tod. Die Sudanesen haben Internet, wissen auch, was draußen vor sich geht. Und ich denke, sie wollen sich von ihrer besten Seite zeigen. Ich meine, hast du schonmal irgendwo in den Medien von der Gastfreundlichkeit der Sudanesen gelesen?

Noch nie.

Die haben teilweise selbst nichts zu Essen, würden dir aber ihre letzten getrockneten Datteln schenken.

Wow.

Die Menschen dort haben eine ganz andere Einstellung, sind dankbarer, ehren das Essen richtig. Auch die jungen Menschen wissen, was es heißt zu hungern.

Man hat dich dort auch auf eine Hochzeit eingeladen, oder?

Ja. Ich war ja krank damals…

Stimmt. Die Malaria-Sache.

Ich war im ärgsten Spital.

Da warst du aber nur zum Testen, oder?

Ja ja, nur zum Testen. Ich weiß nicht, ob man so etwas überhaupt Spital nennen kann. Dort nennt man es Spital. Aber ich glaube, so etwas hat man in Europa noch nicht gesehen. Da waren kaputte Plastikstühle für die Patienten, ohne Lehne. In diesem Laborraum standen uralte ölige Geräte, überall Staub, die Reagenzgläser alle ganz gelb. Dann kam die Assistenz herein, stach mir mit einer Pinnadel in den Daumen, sog an einem Schlauch, damit das Blut fließen und auf eine Glasplatte tropfen konnte.

Pfuh.

Ich wusste nicht, ob ich bleiben oder weglaufen sollte. In meiner Fantasie ging es drunter und drüber. Ich dachte, jetzt hätte ich mir erst etwas Gefährliches eingefangen.

Du hattest ja kurz zuvor auch Wasser aus dem Nil getrunken.

Ja, da hat wahrscheinlich einiges dazu beigetragen, mein Immunsystem zu schwächen. Ich hatte auch irgendeinen Corona-artigen Virus erwischt. Ich habe nachher erfahren, dass tausende Menschen gestorben sind. Und mir ging es auch selbst richtig dreckig. Es war aber gottseidank kein Malaria und ich hab es auskuriert. Aber es war grässlich. Auch mitanzusehen, wie es in diesem Spital zuging, war nicht schön. Ich bekam dann ein Medikament, das ich aber nicht nahm. Tabletten bekommt man dort einzeln, nicht in Schachteln wie bei uns.

Hast du dich da einsam gefühlt?

Phasenweise ging es mir überhaupt nicht gut. Man sehnt sich nach jemandem, der für einen sorgt. Man sehnt sich nach Nähe. Das hatte ich natürlich nicht im Sudan.

Du schliefst zu der Zeit in einem Hotel?

Genau. Zuallererst war ich in einem Hotel, das aber eher eine Baustelle war. Dann, als ich krank wurde, kam ich bei einer Familie unter, wo ich mich aber bald auch nicht mehr wohlfühlte. Man wollte immer, dass ich Bohnenmus esse, was ich aber nicht konnte. Ich musste vieles ablehnen und das hat mir keine große Sympathie beschert.

Sprach dort jemand englisch?

Nur arabisch.

Wie ist dein Arabisch?

Ich spreche es ein bisschen. Du brauchst schon eine gewisse Lernbereitschaft, sonst kannst du dort nicht gut reisen. Ich schreibe mir vor Reisen immer einen Zettel mit den wichtigsten Worten in der entsprechenden Sprache zusammen. Damit kommt man ganz gut durch.

Man kann sich ja auch zum Teil mit Händen und Füßen verständigen.

Ja, total. Und du spürst auch mit der Zeit, welche Menschen du ansprechen kannst und um welche du lieber einen Bogen machst. Aber du kannst auch nicht immer in der Wahrnehmung sein. Manchmal übersieht man Dinge.

Aber von dieser Familie hast du dich dann verabschiedet und bist in ein Hotel gezogen.

Genau. In dieser einen Ortschaft gab es nur dieses eine Hotel mit Baustelle. Und dann bin ich weiter entfernt in einem anderen Hotel untergekommen.

Das war in Kerma.

Genau richtig.

Wie sieht ein Hotel aus, in Kerma?

Es war ein kleines Bungalow. Statt eines Lattenrosts waren Schnüre gespannt. Man sollte sich auch die Matratzen nicht genauer ansehen. Zwei Einzelbetten, Metallgestelle.

Einen Tisch?

Nein, keine Tische. Aber zwei Hocker.

Eine Wanduhr?

Auch nicht. Zeit spielt dort keine Rolle. Ich war auch ständig ohne Uhr unterwegs. Man lebt nach Gefühl.

Wo hast du besser geschlafen: Im Metallgestell im Sudan oder in der Höhle in Jordanien?

[Schmunzeln]

Das Hotel war schon besser. Ich schlief ja bei den Beduinen auch draußen. Und wenn man im Freien übernachtet, schläft man natürlich wachsamer.

Wie ist die Geräuschkulisse?

Man breitet dort neben dem Lagerfeuer seine Matte aus und versucht dann einzuschlafen. Ich weiß nicht, ob unter den Beduinen ein Schnarcher dabei war.

[Gelächter]

Aber man bekommt schon sehr viel mit von den Lauten, vom Wind, von den Tieren…

…von der Polizei.

O ja. Ich bin verhaftet worden. Also es war so: Wir waren mit den Beduinen unterwegs, die uns alles zeigten und näherbrachten, und irgendwann fragte einer, ob wir bei ihnen nächtigen wollten. Die waren so in deinem Alter. Wir saßen also irgendwann in dieser Höhle bei den Beduinen und aßen gerade und plötzlich kamen da zwei, drei, vier, fünf Männer herein.

Uniformiert?

Uniformiert. Es war total finster, wir hatten nur das Lagerfeuer. Es waren eigentlich Aufseher vom Nationalpark. Es fand also eine riesige Diskussion statt zwischen den Aufsehern und den Beduinen. Ich habe einfach gewartet und weitergegessen.

Stoisch.

Es bringt ja nichts, wenn du in so einer Situation ausflippst. Aber irgendwann erfuhren wir dann, dass es verboten sei, hier zu schlafen. Und wir sollten dann mit den Aufsehern mitkommen, die im Übrigen sehr unfreundlich waren. Weil das alles auf einem Berg war, versuchte man, uns wie Esel hinunterzutreiben. Unten sah ich dann Blaulicht und man übergab uns der Polizei.

Konntest du da auch noch ruhig bleiben?

Ja, schon. Ich dachte, notfalls würde es uns ein bisschen Geld kosten. Ich hab das irgendwie spielerisch gesehen. Auch, wenn es sich naiv anhört. Aber Panik in so einer Situation, oder Angst, oder Schuldgefühle – vergiss es. Bei dem Polizeiposten angekommen, spielten sie Guter Bulle, Böser Bulle mit uns. Ein paar Polizisten wollten uns Angst einjagen, meinten dass wir ins Gefängnis müssten. Die anderen haben das wieder relativiert. Ich hab da einfach mitgespielt. Insgesamt waren wir drei Stunden lang dort. Einem Polizisten gefiel ich wohl sehr gut. Der begann irgendwann, mir Fotos zu zeigen, von sich und seinem Besitz. Dann hat er mich gefragt, ob ich verheiratet sei, ob ich einen Freund hätte. Und auf diesen Flirt bin ich natürlich eingestiegen.

Und dann?

Irgendwann um zwei Uhr früh musste ich den Inhalt meines Rucksacks zeigen. Ich hatte ein Säckchen mit Damenbinden dabei. Bei arabischen Männern ist sowas ein absolutes Tabuthema und nachdem ich dieses Säckchen herzeigte, war das Thema erledigt. Ich durfte meinen Rucksack wieder zusammenpacken.

Witzig.

Man probiert eben, wie weit man gehen kann. Im Endeffekt bekam ich ein Heiratsangebot von diesem Polizisten.

Und du konntest das charmant abwimmeln?

Ich hab es irgendwie geschafft, die Kurve zu kratzen. Am Ende mussten wir irgendetwas unterschreiben. Ich weiß bis heute nicht, was. Vielleicht hab ich mich verheiratet.

[Gelächter]

Danach ließ man uns jedenfalls gehen. Und dann suchten wir uns ein Hostel und schliefen dort.

Ich kann mich erinnern, dass du eine sudanesische Schule besucht hast.

Genau. Ich durfte am Englischunterricht teilnehmen, durfte vorlesen und mitmachen.

Wie jung waren die Kinder?

Das war Volksschule.

Und wie sieht so ein Klassenraum aus?

Die Kinder sitzen sehr eng auf abgenützten, ungemütlichen Holzbänken beisammen. Ich glaube, in diesem Raum waren fünfzig, oder sechzig Schulkinder. Ein ganz kleiner Raum, hinten offen. Das war eine Privatschule.

Hast du Zeichnungen von den Kindern gesehen?

Habe ich Zeichnungen gesehen? Nein, ich glaube nicht.

Es wäre interessant zu sehen, was sudanesische Kinder zeichnen.

Total. Ich durfte sehr liebe Kinder kennenlernen. Die wollten mit mir alle auf englisch sprechen, und mir aus ihren Schulbüchern vorlesen. Aber Zeichnungen habe ich leider keine gesehen. Mit ein paar Jungs habe ich Steine über den Nil hüpfen lassen.

Du musstest viele Abschiede verkraften, oder?

Mhm.

Bestimmt hast du jemanden in dein Herz geschlossen.

Loslassen ist so ein Thema.

Unendlich schwer.

Ich glaube, dass ich darin geübt bin. Trotzdem fällt es mir noch immer schwer. Ich brauche dann einfach Zeit für mich. Allein. Jeder ist frei. Nichts im Leben ist endgültig. Und in irgendeiner Weise bleibt man, glaube ich, immer vernetzt. Wenn auch gedanklich.

Hast recht.

Irgendwann gewöhnt man sich auch an´s Loslassen. Das wird irgendwann normal, wenn du von so vielen Menschen und Orten Abschied nehmen musst.

Wurdest du irgendwann distanzierter, um dir das Loslassen leichter zu machen?

Wahrscheinlich schon, ja. Da baut sich so etwas wie ein Schutzmantel um einen auf.

Aber das ist doch furchtbar schade.

Ich weiß nicht, ob ich ohne Schutzmantel meinen Weg so gegangen wäre. Andererseits hätte vielleicht auch etwas Schönes entstehen können.

Hast du dich in jemanden verliebt?

In Äthiopien habe ich meinen Seelenpartner kennengelernt. Wir hatten wenig Zeit zusammen, aber eine wunderschöne. Vielleicht wäre etwas Schönes daraus geworden. Gleichzeitig hätte ich in Äthiopien nicht leben können.

Und jetzt? Bereust du, dass du dich nicht fallen lassen hast?

Ich glaube, ich hätte dann diese ganzen Wegbegegnungen nicht haben können.

[Pause]

Hast du dich bei dir zu Hause gefühlt?

Ja, schon.

Aber hin und wieder schlich sich doch ein Heimweh ein, oder nicht?

Ich will es Sehnsucht nennen.

Wonach?

Nach Wasser beispielsweise. Das dortige Wasser ist einfach nicht unser Wasser. Immer wieder einmal auch nach der Familie. Aber wenn man Freiheit wirklich leben will, muss man eben Kompromisse eingehen.

Wie weiß man denn, was man will?

Auf´s Herz hören. Das hat immer recht.

Ist manchmal gar nicht so einfach.

Das ist es wirklich nicht.

Ist in arabischen Ländern Raum für Selbstverwirklichung?

Ich glaube, prinzipiell strebt jeder Mensch nach Selbstverwirklichung. Nur gibt es dort einfach andere Prioritäten, auch weniger Chancen. Wenn du dir die Maslowsche Pyramide ansiehst: die Grundbedürfnisse sind Essen und ein Dach über dem Kopf. Diese Menschen sind einfach froh, dass sie überleben können. Äthiopier träumen wahrscheinlich anders, als Europäer.

Ich weiß, diese Frage kommt jetzt aus dem Nichts. Aber wie riecht es dort?

Nach Tod. Nach Armut. Und doch ganz konträr nach Lebensfreude.

Hm.

Und auch nach Sonnenschein. Es ist bekannt, dass dort dreizehn Monate lang die Sonne scheint.

Ach ja, stimmt. Der äthiopische Kalender liegt dem unseren um acht Jahre zurück.

Genau. Dort hat ein Jahr dreizehn Monate.

Und es herrscht großes Elend.

Es herrscht sehr großes Elend. Trotzdem habe ich dort bei manchen eine solche Lebensfreude gesehen. Gerade dann, wenn Feste gefeiert werden. Dann vergessen sie die ganze harte Arbeit auf dem Feld, vergessen dass sie morgen nichts zu essen haben könnten. Das war unendlich schön anzusehen. Gleichzeitig habe ich auch großen Hass erlebt. Kinder schlugen mich. Menschen warfen mit Flaschen nach mir.

Warum gerade dort?

Zum Teil kommt es wahrscheinlich aus der Besatzungszeit, denke ich mir. Gleichzeitig gibt es in Äthiopien beinah keine Bildung. Vielleicht ist es auch Unverständnis. Ich war dort für manche ein Alien.

Ist das sowas wie umgekehrte Diskriminierung?

Ja, irgendwie schon. Darum kann ich mich jetzt auch noch besser in Menschen einfühlen, die als Fremde zu uns nach Österreich kommen und auf Rassismus stoßen.

Wie hast du es geschafft, dich trotzdem wohlzufühlen? Du warst sechs Wochen dort.

Ich hatte das Gefühl, nicht weglaufen zu wollen. Ich habe Black Diamond kennengelernt. Da waren so Momente des Sonnenscheins.

Wie kleiden sich die Menschen in Äthiopien?

Man sieht ganz oft diese typischen Streifen. Manche Frauen tragen Leinenkleider…

Gibt es Eitelkeit?

Das kommt drauf an. Eigentlich nicht. Bei uns in Europa gibt es eine Mittelschicht. In Äthiopien habe ich die nicht gesehen. Dort gibt es sehr arme und sehr reiche Leute. Dieser Kontrast hat mir ziemlich zu schaffen gemacht.

Und wie verläuft ein Gespräch in Äthiopien? Mit jemandem, der dir zwar wohlgesonnen, aber aus dieser armen Gesellschaftsschicht ist.

Da ist immer diese Neugierde. Da sind die Fragen, woher man kommt, warum man herkommt, wer man ist; Oft sind sogar die Äthiopier auf mich zugekommen. Du hast sofort eine Basis. Bei uns hier in Österreich gibt es dieses Zugehen weniger. Im Sudan haben sich die Leute bei mir bedankt, weil ich ihnen von mir erzählte, und von Europa, und Zeit mit ihnen verbrachte. Bei uns ist Zeit Geld. Dort nicht.

Ein Sudanese in Österreich wäre eher ein Ausländer, als ein Gast.

Total. Eine Österreicherin im Sudan ist dagegen ein Gast.

Bevor du in Äthiopien warst, bist du unter anderem durch Ägypten gereist. Einmal in einem Zug von Kairo nach Alexandria. Und warst in diesem Wagon die Attraktion?

Ich habe vorher zwei Inder im Hotel kennengelernt, mit denen ich dann nach Alexandria fuhr. Und weil Bollywood dort eine große Rolle spielt, waren die beiden Inder noch größere Attraktionen, als ich weiße europäische Frau.

Wollten die Leute Fotos mit dir machen?

Ständig. Ich war überall, wo ich war, gleich bekannt.

Und hat sich das gut angefühlt?

Ja, schon. Man weiß zwar nie, was mit den Fotos gemacht wird. Bei manchen jungen Burschen habe ich Nein gesagt. Aber für diese Menschen ist ein Foto mit jemand Weißem wie ein Foto mit einem Star.

Ist es eigentlich auch einmal böse ausgegangen, wenn du dich auf jemanden eingelassen hast?

Hm.

Du grinst so verdächtig.

[Gelächter]

Wenn du auf Reise bist und fast nur Gutes erlebst, wirst du vielleicht ein bisschen zu unvorsichtig. Es gab eine gefährliche Situation in Ägypten. In einem Beduinen-Camp in Sinai. Einer der Männer hatte Geburtstag und es wurde geraucht. Ich habe auch einen Zug gemacht. Irgendwann kam es, dass dieser Mann mich küssen wollte.

Aufdringlich?

Sehr aufdringlich. Er wollte nicht akzeptieren, dass ich ihn nicht küssen wollte. Da bekam ich Angst. Ich war die einzige Reisende im Camp.

Hättest du dich irgendwie fortmachen können?

Schwierig. Da war ein Nebel über mir und ich nahm nicht mehr alles wahr. Weiß nicht, ob du das kennst. Ich bin ihm jedenfalls entkommen, hab mich in mein Zimmer gesperrt, bekam es aber mit der Angst zu tun, weil er an meine Tür klopfte. Ich weiß nicht genau, was er mit mir hätte machen wollen. Es war auch einfach blöd von mir, zu rauchen.

Gibt es eigentlich etwas, von dem du bereust, es nicht getan zu haben?

Nein, eigentlich nicht.

Hättest du sterben können, ohne jemals Wasser aus dem Nil getrunken zu haben?

Hah, naja. Ich will einfach immer alles versuchen. Und man bot mir an, dieses Wasser zu kosten. Dann nahm ich eben einen kleinen Schluck, weil ich wissen wollte, wie es schmeckt.

Und?

Schal schmeckt es.

Du hast es aber nicht direkt aus dem Nil getrunken, oder?

Nein nein. Aus einem Becher, der aus Ton war. Die Menschen dort trinken ja auch alle dieses Wasser. In Assuan bin ich im Nil geschwommen. Wegen der Krokodile bekam ich dann aber ein mulmiges Gefühl und schwamm schnell wieder zurück.

Bwoah.

Ich glaube, wenn du auf Reisen bist, lebst du einfach anders. Du bist viel offener. Wenn du zu viel mit deinem Verstand entscheidest, erlebst du auch nichts.

Vernunft ist auch wirklich kein schönes Wort.

Es ist schon okay, wenn der Verstand hin und wieder einen Blick darauf wirft, was man so macht. Aber Vernunft hält einen auch davon ab, großartige Erfahrungen zu machen, weil man sich nicht auf die Dinge einlässt. Die Vernunft findet immer eine Ausrede für das, was das Herz will.

Wärst du mit Verstand gereist…

…hätte ich vieles nicht erlebt. Es ist schon irgendwie logisch, retrospektiv, dass ich in dieser Höhle bei den Beduinen nicht hätte schlafen dürfen.

Aber wie ich dich kenne, bist du froh, dass du diese Geschichte erlebt hast.

Total. Ich hätte ja sonst nichts zu erzählen.

[Gelächter]

Wenn man sich nicht auf das Risiko einlässt, erlebt man weniger. Natürlich ist es nie auszuschließen, dass etwas daneben geht.

Eine Nebenwirkung davon ist möglicherweise Angst.

Stimmt. Manchmal. In Äthiopien habe ich es mit der Angst zutun bekommen.

Weswegen?

Ich war längere Zeit an einem Ort. Mehr als eine Woche lang. Irgendwann habe ich bei einem der Guides eine Tour gebucht. Und als mich dieser Tourbus abholen wollte, fuhr ein anderer Bus vor, aus dem einige Leute ausstiegen. Und ein Mann meinte, ich solle umsteigen, in diesen anderen Bus. Das hat sich sehr falsch angefühlt. Bei diesem Bus stand unter anderem ein Mann mit einer Narbe im Gesicht, der mich die ganze Zeit über anstarrte. Es gab eine große Diskussion. Es hieß, ich solle sofort umsteigen. In meinem Bus saß ganz hinten Raffael, ein Deutscher, und ich bat ihn, bei mir zu bleiben. Ich hatte ein wirklich schlechtes Gefühl. Er war nett und ist bei mir geblieben. Und irgendwann sind wir mit dem Tourbus weggefahren. Zu einem Hotel. Und als wir dort ankamen, parkte sich dieser andere Bus wieder uns gegenüber ein. Wieder kam dieser Mann zu uns und es hieß, ich solle sofort umsteigen.

Pfoa.

Ich habe immer das gleiche gesagt: dass ich nicht umsteigen würde. Plötzlich wollte er einfach meinen Rucksack umladen.

Dein ganzer Besitz.

Diese Männer schauten mich richtig böse an. Aber Raffael war die ganze Zeit über an meiner Seite und irgendwann ließen wir uns das alles nicht mehr gefallen und gingen in ein Restaurant. Ich fühlte mich dort wirklich unwohl, und ein bisschen später flog ich mit dem Flugzeug nach Addis. In Äthiopien sollte man einfach nicht zu lange an einem Ort bleiben.

Danke, dass du mir das alles erzählst.

Sehr gern.

Hab ich die Struktur-Andrea in dir eigentlich nervös gemacht, mit meinen unbesonnenen Fragen?

[Gelächter]

Überhaupt nicht.

Danke, dass du dir die Zeit genommen hast!

Gern! Danke dir!


Interview vom 25 • September • 20 in Lunz am See